Wer hat’s erfunden?

Meine Vorstellung von der Schweiz ist eine Obwohl-Vorstellung.

Obwohl ich Schweizer und in der Schweiz sozialisierte Menschen kenne und schätze, obwohl ich dort schon mal Urlaub gemacht habe und das ein oder andere Mal hindurchgereist bin, mein Schweizbild lässt sich durch diese Erfahrungen nicht prägen.
Es prägt sich noch nicht einmal durch die prägnanten Erfahrungen meiner Familie mit der eidgenössischen Staatsmacht. Mein Vater hat einst beinahe eine diplomatische Krise ausgelöst, als er versuchte, visumspflichtige Ausländer ohne ebenjene Papiere ins Land zu bringen. Es sollte nur ein Ausflug zum Rheinfall werden. Aber das war den Schweizer Grenzern egal. Ohne Visum keine Einreise. Ohne Einreise kein Rheinfall. Etwas lauteres Diskutieren mit den Grenzbeamten führte zu einem halben Dutzend auf die Reisegruppe gerichtete Maschinengewehre. Da verstehen die keinen Spaß, die Rütlischwörer. Mein Bruder hat mal illegal den Grenzzaun zwischen Konstanz und Kreuzlingen überstiegen. War auch nicht sooo clever. Ich hatte Glück, als wir damals im personenmäßig überfüllten Kleinbus gen Italien fuhren und an der Greizer Schwenze niemand die Autopapiere sehen wollte, sonst wäre ich auch noch aktenkundig geworden dort. Aber egal, denn all das spielt ja keine Rolle für mein Schweiz-Bild. Genausowenig wie meine Gruyère-Sucht, meine Schwäche für Ovomaltine und Rivella oder ein deftiges Käsefondue oder der jegliche Neutralität zu Beliebigkeit umdeutende Satz „In dem Fall bin ich die Schweiz.“, den mein soziales Umfeld gerne sagt, wenn etwas, was einen eigentlich moralisch etwas angeht, doch recht scheißegal ist.

Die Schweiz vor meinem inneren Auge ist eine kleinstädtische und bürgerliche Schweiz. Die Menschen wohnen am Hügel mit See- und Bergblick, sie sind sehr intellektuell, sie rezipieren neueste Philosophie, sie orientieren sich an Berlin, Paris und Buenos Aires, sie hören anspruchsvolle Musik, lesen anspruchsvolle Literatur, schätzen die bildende Kunst und gehen oft ins Theater. Sie wohnen in den Denkmälern der Architekturmoderne und trinken Anisschnäpse. Die Männer sind allesamt studiert, die Frauen sind opheliamäßig schön und ebenso geisteskrank, meist üben oder übten sie einen Beruf im regen Kulturbetrieb der kleinstädtischen Schweiz aus. Schweizer haben keine Kinder oder keine Beziehung zu ihren Kindern. Das hat vielleicht auch etwas mit ihrem problematischen Sexualleben zu tun. Die Männer wären gern promisk (klappt aber nur bedingt), die Frauen haben lüsterne Gedanken, die aber viel zu selten Realität werden. Die Schweizer onanieren irgendwie aneinander vorbei. Und noch was: Alle haben sie zu viele Leichen im Keller und eigentlich leben sie irgendwie noch in den 1950ern.
Das ist meine Schweiz.
Meine Schweiz und meine Schweizer entspringen aus meinem, durch die Lektüre der hervorragenden Erzählungen Friedrich Dürrenmatts, Max Frischs und Urs Widmers geprägten Kopfkino. Die Fiktion ist stärker als die Realität. Ich mag meine Schweiz sehr.

2 Kommentare

  1. Ich will auch eigene Schweizer haben!

  2. DonNino545 22.11.2008

    Ich könnte wetten, dass dein Bruder den Grenzzaun im Rahmen des Seenachtsfestes überstiegen hat. Da avanciert das hier fast zum Volkssport.

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