Verlassen

Roman hatte den Schlüssel verloren. Das war im egal. Das Wetter war wie wenn im Februar ein paar weniger kalte Tage den Dreck der letzten Zeit sichtbar werden lassen. Grau mit dreckigem Grün in den Rabatten. Es war aber gar nicht Februar, der soll erst noch kommen. Andernorts hätten Stadtobere zu wichtigen Anlässen die Rabatten saftig lackieren lassen. Hier passten sie zum Beton, der nach verfallendem Hochbunker aussah, moderne Architektur einer ehemals überlegenen Ideologie darstellte und zwar Hauptbahnhof hieß, auch wenn es sich in dieser Sprache kaum aussprechen ließ, aber keiner war.

Roman hatte die Tür hinter sich zugezogen, ohne noch einmal um die Ecke auf sein Bett zu schauen. Da lag eine mit dem Bauch auf der Matratze, der kleine blonde Pelz, den sie über dem Po hatte, leuchtete in dem dreckigen Licht, dass durchs Fenster in das Schlafzimmer schien. Sie schnarchte dezent und roch nach der Nacht. Liegen lassen.
Er ging den Weg hinauf, an der Nähstube, den zwei Kirchen und drei Sonnenstudios vorbei und durch die kleine Gasse zwischen den Wohnblöcken zu der Wellblechhütte, die sich Supermarkt nannte und nahm den Bus, voll mit jungen müden Männern in zerschlissenen Jogginganzügen und wachen jungen Frauen, die alle aussahen, als wollten sie hier weg und deshalb zuviel Rot auf ihren Lippen hatten. Da saß eine, die grüßte ihn, als er kurz nach der Gummifabrik sich durch die stehenden Fahrgäste hindurch ans Ende des Busses gekämpft hatte. Er stieg schweigend am Stadion aus. Sitzen lassen.
Er lief den Abhang hinab in Richtung der Mall, von dort den anderen Hang hinauf, vorbei am Theater. Gestern gab es dort ein Kostümstück über die Intrigen und Gehässigkeiten in den Beziehungen der oberen Zehntausend. Vor 120 Jahren war das Gesellschaftskritik. Heute wurde es selbst hier hinter den großen Wäldern so ironisch gebrochen gespielt wie das Leben in den wirklich großstädtischen Daseinslaboren der aus all den Hiers dieses Kontinents ausgebrochenen Kindern gutverdienender Eltern. Wahrscheinlich war der Regisseur so ein selbstverliebtes Arschloch mit wunderschöner aber debil grinsender Häschenfreundin, der selbst ein paar Jahre in einer Metropole verbracht hatte, um dort allen zu zeigen, wie sehr er die verachtete, deren größtes Klischee er war. Nun ließ er sich hier als der verlorene Sohn feiern und zeigte allen, wie blasiert die Menschen sind, bei denen er sich so unwohl fühlte, als er geflohen war vor dem intelektuellen Unverständnis derer, die ihn nun feierten. Wichser. Dachte Roman und dachte an Häschenfreundinnen mit debilem Grinsen die vor ihm in die Knie gehen und an seinem Gürtel nesteln. Wen die Toiletten in den Zügen nicht so widerlich wären. Fallen lassen.

Rund einen Kilometer nach dem Theater waren aus den Gründerzeithäusern Baracken geworden, die den Bahnhof ankündigten. Welchen Zug? Egal, sagte sich Roman und nahm dennoch den, mit dem er damals gekommen war. Er suchte sich ein freies Abteil. Auf dem Viadukt, keine drei Minuten nach der Abfahrt des Zuges, konnte er die Kotze nicht mehr halten.

2 Kommentare

  1. Ich habe ein merkwürdiges Bauchgefühl-Radar, der beim Überfliegen meiner Feeds manchmal anspricht. Ich lese die ersten Sätze eines Artikels und denke dann “Nein, das liest du nicht jetzt, dazu bist du zu müde/hast nicht genug Zeit”. Und ich markiere den Artikel dann als ungelesen.

    Und meistens stellt sich dann heraus, dass ich Recht hatte, dass der Artikel richtig großartig ist, wunderbar geschrieben und schön erzählt.
    Dies ist einer dieser Artikel.
    Danke für ihn.

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