Mittekinder

Heute war ich am Hackeschen Markt einkaufen. Weil es da einen Wochenmarkt und einen großen Bioladen gibt und ich also Mangold, Schwarzkohl, Rote Beete, glückliche Wurst, edle Pasta, mediterrane Frischkäsezubereitungen, tollen Kuchen, ausgefallene Joghurtsorten, handgemachten Börek und Strudel nicht nur frisch sondern überhaupt bekomme.
Das alles allerdings hat seinen Preis: Die Kinder der anderen.

Schon vor dem Aufzug im Bahnhof diskutiert eine geschätzt Vierjährige im Flokati laut protestierend mit ihrer Mutter wegen irgendetwas. Die Mutter nimmt ihre Hand, zeigt auf einen der äußerlich unversehrten Kinderfinger und erwidert: “Anais das ist eine Wunde, das geht nicht mehr weg, da müssen wir jetzt wohl zum Arzt, das muss operiert werden.” Dann kommt der Aufzug und Anais’ Mutter stiefelt Anais hinter sich herziehend in den Aufzug ohne hinter sich die Schlange an Kinderwägen, Rollstühlen und Rentnern zu beachten. Sollen doch die die Rolltreppe nehmen.

An der Wursttheke drängelt sich Paul vor mich. Er müsste wochentags so in die zweite Klasse gehen, jetzt wirft er sich gegen die Scheibe der Wurstauslage, tatscht darauf herum und macht mit der Zunge Schlieren aufs Glas. Seine Mutter kommt hinzu: “Paul, magst Du heute die Wurst kaufen? Ja?” Die Fleischereifachverkäuferin ignoriert das vor ihr stehende Kind gekonnt und dreht mir genüsslich ein Pfund Hack durch den Wolf.
Pauls kleiner Bruder prügelt indes energisch auf den Hintern seiner Mutter ein. Die fährt ihn an: “Ich hab Kopfschmerzen, verdammt!”

An der Kasse des Bioladens steht eine Eistruhe. Davor schreit ein Mädchen, dass sich mit aller Kraft an der halboffenen Truhe festhält, weil die Mama ihm kein Eis kaufen will. Die Mama zerrt am Kind, reißt an ihren Gliedmaßen und ruft den verstört zu ihr blickenden Mitmenschen: “Da muss man konsequent sein.”

Eigentlich hätte dieser Text “Mitteeltern” heißen müssen.

Geistige Gemeingüter

Ich habe einen Fehler gemacht heute am Vormittag.
Ich habe auf Twitter einen Tweet gelesen, den ich gut fand und deshalb mit meinem Onlinenetzwerk teilen wollte (warum ich den Tweet gut fand, ist im Folgenden kein Thema).

Fremde Tweets teilen im Sinne von anderen zur Verfügung stellen, geht auf verschiedene Weise.
Eine wäre ein automatisierter Retweet. Das hat aber den großen Nachteil, dass aus mir nicht näher bekannten technischen Gründen durch die Automatisierung dieser Retweet nicht in die ebenfalls automatisierte Weiterleitung meiner Tweets zu meinem Facebookaccount gelangt wäre. Da ich aber wollte, dass dieser Tweet auch meinen Facebookfreunden bekannt wird, musste ich ihn manuell retweeten. Dazu kopierst du den zu retweetenden Tweet in deine Tweeteingabezeile und fairerweise gibst Du dazu noch an, woher du den Tweet hast.
In meinem Fall haben der alte Tweet plus die Nennung des Twitterers aber nicht in die 140 Zeichen eines neuen Tweets gepasst, weshalb ich den alten Tweet etwas gekürzt habe. Da das nun kein genauer Retweet, kein exaktes Zitat mehr wahr, habe ich ihn nicht als solchen gekennzeichnet, sondern den Twitterer des Quelltweets in einer “via”-Angabe genannt.
Das war aber auch blöd, weil “via” irgendwie meist nur einen Linkhinweis oder ähnlich geringe Teilmengen eines Fremdtextes belegt, aber selten ein Quasizitat. Ich will das zukünftig besser machen.

Unabhängig davon haben einige meiner Follower und deren Follower entweder mein “via” überlesen und/oder beim weiteren Retweeten weggekürzt.
Ebenfalls unabhängig davon ist mein Tweet mit via auf der Twitterstartseite gelandet.
Beides hat mir beziehungsweise meinem Twitteraccount heute erhöhte Aufmerksamkeit beschert, was mir ja einerseits recht ist, andererseits mit fremdem Federschmuck einhergeht.

Ohne dass ich davon wusste, hat parallel zu all dem mein geschätzter Kollege @mspro bei Twitkrit zu den angeblichen und realen Plagiatfällen in unserem Twitterbuch geschrieben und dabei kühn behauptet, Twitter sei ein schönes Laboratorium um ohne Urheberrecht miteinander und mit unseren Texten klarzukommen. Wie recht er hat.

Ein Punkt in seinem Text und in der Kommentardebatte danach finde ich besonders bedeutend:
Twittern ist wie Klosprüche, wie Aphorismen, wie Spontispruchsammlungen. Auch ein Hippie muss mal Pipi und dergleichen. Da bricht sich die Weisheit und Dummheit der Massen Bahn. Gerne in Wortspielen. Und ich sag mal auf Hippie reimt sich jetzt nicht soviel. Das ist jetzt keine besondere Leistung, sich den Spruch auszudenken. Und insofern auch kein Wunder, wenn der von verschiedenen Menschen “erfunden” wird. Und wenn Hippies gerade Trending Topic sind, geschehen solche Erfindungen schon mal zeitglich, ohne dass es von einander klauen ist.

Dazu kommt, dass durch Retweeten und ähnliches ganz schnell einerseits technisch durch das Verhalten bestimmter Twitterclients oder andererseits durch absichtliche und unabsichtliche Nachlässigkeit eines Retweeters in der Retweetkette die Quelle am Anfang der Kette unter den Tisch fällt. Alle, die dann später den Tweet rezipieren, haben gar keine Chance mehr, nachzuvollziehen, wo der Text herkam, der möglicherweise trotz all seines Witzes nicht nur einer Person eingefallen war, weil das Thema gerade nahelag.

Obwohl ich am Vormittag etwas krampfig meine Quelle angab, fiel ein Teil der Aufmerksamkeit auf mich, weil irgendwo außerhalb meines Einflussbereichs meine etwas krampfige Quellennennung flöten ging. Dabei war ich’s gar nicht. Ich hab nur weitergeplappert.

Nicht hinter jedem vermeintlichen Plagiat steckt also kriminelle Absicht. Erst recht nicht, wenn es um so kleine Textfragmente wie Tweets geht.
Die Literaturtheorie hat längst herausgearbeitet und anerkannt, dass wir in einem ständigen Bezugsystem aus Texten leben, unsere Gedanken und Äußerungen ohne die Gedanken und Äußerungen anderer gar nicht möglich und immer davon beeinflusst sind. Es gibt keinen Originaltext, immer nur Fortschreibungen. Und je kleiner die Textmenge desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sich Vorgängertrext und Folgetext sehr sehr ähnlich sind.
[Exkurs] Ist eigentlich schon wer auf die Idee gekommen, zu prüfen, wie viele der “Ich hasse Montage”-Tweets oder “Wetter ist scheiße”-Tweets wortgleich sind, um die jeweiligen Twitterer dann des illegalen Kopierens zu bezichtigen? [/Exkurs]
Und je schneller fortgeschrieben wird, umso schneller gerät der Stammbaum des Textes in Vergessenheit. Twittergeplapper ist etwas schneller durcherhitzt als beispielsweise die Tradition des sehr berühmten Faust-Stoffes. Aber wer weiß schon, dass Goethe sich da hat inspirieren lassen? Sicher noch einige. Aber wer weiß, von wem alles und wer alles sonst diesen Stoff vor Goethe publiziert hatte? Na? Originale geraten in Vergessenheit, der Stoff aber bleibt aktuell.

Genau deshalb ist es auch Blödsinn, von geistigem Eigentum zu sprechen.

Eigentum ist eine Kategorie aus der Welt der materiellen Güter und da vom Besitz zu unterscheiden. Nehmen wir das Beispiel “Buch”.
Ich kaufe mir ein Exemplar unseres Twitterbuchs. Damit bin ich Eigentümer dieses Exemplars. Sobald ich es meiner Nachbarin leihe, besitze ich es solange nicht mehr, bis ich es zurück bekomme. Eigentümer bleibe ich aber, ich habe es ja nicht weiterverkauft oder verschenkt. Den Inhalt des Buches kann ich aber weder besitzen noch als Eigentümer halten, denn der ist ja in allen Exemplaren des Buches identisch. An dem haben alle teil, die das Buch lesen, ob sie es nun gekauft haben oder nicht.
Und wer das Buch liest, hat die darin enthaltenen Tweets in seinem Kopf. Die Leser werden vieles vergessen, vielleicht auch doof finden. Aber ganz sicher, wird das Gelesene Spuren in ihren Gedanken hinterlassen. Und wenn aus den Gedanken Äußerungen werden, finden sich diese Spuren darin wieder. Sei es als Zitat, als Anspielung, als Thema oder als ungekennzeichnete Vollübernahme (vulgo Plagiat).

Würde das Eigentumskonzept bei Texten oder Tweets als den Produkten geistigen Schaffens greifen und wären diejenigen, die einen Text/Tweet erfunden haben die Eigentümer ihres geistigen Schaffens, müssten sie diese Texte/Tweets von ihren Lesern zurückbekommen können, wie ich das Buch als physikalisches Ding aus Papier von meiner Nachbarin zurückbekomme, nachdem sie es gelesen hat.
Das funktioniert aber eben nicht, denn der Leseeindruck und damit der Text bleiben bei meiner Nachbarin wie bei allen Rezipienten.
Und was die dann aus ihren Leseeindrücken machen, liegt an ihnen. Wenn sie nett sind, machen sie Quellenangaben beim Weiterverwenden.

Das ist übrigens eine sehr akademische Weise, mit Vorgängertexten umzugehen. In der mündlichen Kommunikation lassen wir die Literaturhinweise spätestens nach “Die Bekannte eines Bekannten meiner Schwester hat gesagt” aus Bequemlichkeits- und Zeitersparnisgründen meist weg und keinen stört’s. Und Twitter ist in all seiner Geschwätzigkeit schon sehr nah am Oralen.

Aber dennoch: Wenn die Textrecycler nett sind, machen sie Quellenangaben beim Weiterverwenden. Und dann kann es ihnen doch gehen wie mir heute am Vormittag. Sie treffen auf automatisierte und humanoide Recycler recycleter Texte, die warum auch immer diese Nettigkeit nicht mehr bis ins x-te Glied zurück bedienen und werden auf einmal zu Autoren, die sie nicht sind und Plagiatoren, die sie nicht sein wollen.

Und jetzt müsste ich als Mitherausgeber eines urheberrechtlich geschützten Twitterbuchs eigentlich noch hinterherschieben, wie ohne geistiges Eigentum dennoch zu rechtfertigen ist, mit Texten Geld zu verdienen. Ich müsste mich zum Thema Urheberrecht verhalten. Das ist ein weites Feld. Nur soviel: Mit den Texten wird meiner Meinung und Erfahrung nach nur schwer Geld verdient, verdient wird mit der Darreichungsform und der Exklusivität der Veröffentlichung sowie der Werbung drumrum.
Das war vor der Digitalisierung einfacher, weil Texte an physische Medien gebunden waren und das Drucken und Nachdrucken etwas länger dauerte als heute ein einfaches Retweeten. Siehe dazu auch Marcel Weiß, insbesondere diesen Text.

Im Falle unseres Twitterbuches:
Die Tweets inklusive aller Zitate, Kopien, Plagiate und StudiVZ-Gruppennamen, die wir als solche nicht erkannt haben, weil selbst unser intertextuelles Wissen begrenzt ist, sind nicht unsere kreative Leistung.
Unsere kreative Leistung (wie auch immer ihr deren Qualität bewerten wollt) ist die Auswahl und die spezifische Zusammenstellung in den Kapiteln des Buches und der Reihenfolge sowie die Drumherumtexte.
Der Verlag wiederum stellt Geld, Papier, Satz, Druckaufträge, Marketing, Distribution und ähnliches Verlagsknowhow, um dass alles auf ein physikalisches Medium namens Buch zu bekommen. Diese Investitionen will er wieder (am besten mit Gewinnplus) reinholen. Das kann er, weil es diese Inhalte in dieser Form nur in diesem Buch gibt, dass obendrein im Moment nur als relativ aufwändig zu kopierendes Papierprodukt gibt und offenbar ein bestimmtes Interesse am Markt besteht, diese spezifische materialisierte Form der Tweetsammlung zum vorgeschlagenen Preis zu kaufen.
All das ginge wohl auch ohne Urheberrecht. Meine Meinung. Nicht zwingend die des Verlags.

Ich bin jetzt Print

Stimmt natürlich nicht so ganz, dass das erst jetzt so ist. Zum einen hab ich früher ja schon mal für eine gedruckte Tageszeitung gearbeitet, zum andern tauchten meine ersten gedruckten Onlinebeiträge in der gedruckten Zeitung zur ersten re:publica 2007 und im Daily-Monster-Buch auf. Und im Stijlroyal-Magazin Nummer 13 durfte ich auch was schreiben, nachdem ich für die Nummer 12 schon interviewt wurde.

twitterbuchcover

Aber: Nun bin ich Mitherausgeber und das ist ja schon was anderes. Ich freu mich also schwer, dass heute unser Best-of-Twitterlesung-Buch bei PONS erscheint! Ich freu mich so schwer, dass ich dafür sogar unter die Filmemacher gegangen bin und den Herausgeberkollegen @mspro zum Buch interviewt habe:

Der Verlag hat auch noch ein Video zum Buch machen lassen. Und nun könnt Ihr es also kaufen. Am besten in Eurer Lieblingsbuchhandlung. Oder in meiner. Online bestellen geht auch. Hier zum Beispiel. Danke.