Ach, Sven

Ich war neu und wollte die Vorlesung zur Sozialgeschichte der Literatur hören. Und für ein Referat über die Roten Brigaden hatte ich mich auch schon angemeldet. Aber dann wurde mal wieder die Bildung zu Grabe getragen (wahlweise auch geklaut) und ein Vierteljahr später hatten wir uns derart für unsere Zukunft eingesetzt, dass wir uns in so einer Art Koalitionsverhandlung für den neuen AStA befanden. Als gute Geisteswissenschaftlerinnen hatten wir uns das Kulturreferat vorgenommen. Wie wir uns das denn vorstellen, wollte der alte Kulturreferent wissen. Lesungen, Filmvorführung, Konzerte, das übliche. Meinten wir. Ob wir da noch mal drüber reden könnten. Wie in: Da müssen wir nochmal drüber reden. Er schlug vor, sich zu treffen. In einer Ecke der Stadt, in der AStA-Referenten eher nicht wohnen. Direkt am Hinterausgang der S-Bahn-Station links. In der Tür ein schwerer, dicker Teppich, der die Kälte draußen und den Rauch drin ließ. Am Tresen Menschen mit grauen Haaren und grauen Gesichtern. In Baumwollsweatshirts und Karohemden. Drüber dünne Leder- oder Jeansjacken. Mehrheitlich langhaarig. Ausschließlich Selbstgedrehte. Hinterm Tresen die Wirtin. Und die kleine Küche für die Suppe und die belegten Brote. Oder den Salat. Mit Schafskäse. Und Oliven. Bis zehn. Danach nur Erdnüsse oder Salzstangen. Nach dem Tresen der Gastraum. Einfache Holztische und Stühle. Darauf ein Kästchen mit Bierdeckeln und alte Plastikascher. Wir reden. Der alte Kulturreferent hatte seiner Mutter ( wohnte in Bayern) zu Weihnachten einen alternativen Berlin-Roman geschenkt. Weil sie glaubt, er lebe so wie in diesem Romanen. Sagt er. Was wir denn unter Kulturpolitik an der Hochschule verstehen. Wir trinken Bier. Schultheiß oder Jever. Wir rauchen. Filterzigaretten. Dass wir einen unreflektierten Kulturbegriff hätten. Weil Kultur doch meist nur dazu dient, die entfremdete Masse zu benebeln. Ablenkung von all dem, was schief läuft in diesem Scheiß-System. Ihr wisst schon. Irgendwas mit Opium. Sagt er. Gauloises. Raucht er. Rote. Fürs revolutionäre Bewusstsein braucht es Marx statt Slam-Poetrie? Naja, so hart will er das auch nicht gesagt haben. Kommt immer drauf an, was für Kultur. Gibt ja auch welche, die sich gegen die herrschende Klasse wendet. Und er hat ja auch immer die billigen Karten für Oper und Schaubühne fürs Studentenwerk verkauft. Ist ja eh subventioniert. Und so. Neues Bier. Wir könnten ja noch Doppelkopf spielen, sagt er. Ich bestelle Salat. Mit Schafskäse. Und Oliven. Am Tresen diskutieren die Menschen mit den grauen Gesichtern und bohren sich Zeige- und Mittelfinger in die Rippen. Vor ihnen stehen Rotweingläser. Die Wirtin dreht am Lautstärkeregler der Musikanlage. Seit einer Weile schon läuft “Damals hinterm Mond.”

Berliner S-Bahn (gestrandet)

Für Peter

Da sitzt unter vielen anderen eine Person in einem fahrenden Zug. Zwischen zwei Bissen Rührei schaut sie aus dem Fenster des Bordrestaurantwaggons in den grauen Morgen. Hamburg liegt schon ein gutes Stück zurück, da steht auf einem Nebengleis an einem kleinen Bahnhof im Mecklenburgischen eine Berliner S-Bahn.

Die Farben des Zuges, das Dunkelkarmin, das Ochsenblutrot, das behäbige Gelb zerstreuten kurz aufkeimende Zweifel, ich hätte mich im Zug getäuscht. “Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten erreichen wir unseren nächsten Halt, Jerichow. Dort erhalten sie Anschluss an eine Berliner Stadtbahn.” Ich stelle mir den Dispatcher als grinsenden Mann vor. Dabei weiß ich noch nicht einmal, ob Jerichow heute einen Bahnanschluss hätte. An der Berlin-Hamburger Bahn läge es nicht. Den ganzen Beitrag lesen

Quasi ein Zwiebelring

Günter saß in Ostberlin bei Freunden abends in der Stube,
Mit dabei saß aber auch ein böser Stasibube.
Mittags waren sie
Beim Bolzen in einem nahen Park,
Besonders Günters Einwürfe, die
Erwiesen sich als stark.
Jetzt aber hörten alle zu, wie der Günter schwelgte
Von diesem einen Treffen damals dort in Telgte.

Die Freunde waren fasziniert,
Der Spitzel aber irritiert,
Wie konnte Günter nur einst nach Telgte kommen?
Den Bitterfelder Weg hat er ganz sicher nicht genommen!

(Was der IM nicht wusste und bis heute auch nicht weiß,
Günter ging wie Jakob quer mit Uwe übers Gleis.)

Kathrin zugeneigt, die mir die Leipziger Reclam-Ausgabe des Treffens schenkte.

Ich bin wieder hier

Die Kacheln im Bad in einem Braunton wie damals. Auf dem Sims stehen die offenen Shampooflaschen und sehen aus wie Schornsteine in einer Industrielandschaft. Bottrop, denke ich und drehe das Wasser ab. Ich schiebe einen Hass auf Schminanski. Rohes Ei ins Glas schlagen und trinken kann ich auch. Er ist aber aus Duisburg. Im Spiegel die Fehlhaltung und die Specktitten. Meine. Von wegen Schimanski. Alles so weich und fahl wie das widerliche Erbsenpüree zur schon kalten Rinderzunge, die ich damals nicht essen konnte in dieser großen Küche in diesem alten Gebäude, dass noch roch, wie ich mir den Krieg vorstellte. Wohl weil es Außenklos hatte. Das war ein weiter Weg von der großen steril aussehenden aber nicht steril riechenden Küche zum nicht steril aussehenden Außenklo, in dem nichts roch, weil hier das Fenster mitten im Winter weit offen stand. Es war ein weiter Weg mit all der Kotze, die sich im Mund aufstaute, weil ich mich nicht traute, die Innereien von mir und dem Rind auf den Küchentisch oder den Küchenboden oder die langen Flure zu spucken. Die Keramik der Schüssel war schon matt, an den Rändern der kleinen Pfütze Wasser in der Schüssel sah es aus, als würde sich Rost ablagern. Die Wasserrohre zum und vom Klo, zum und vom Waschbecken mit dem eiskalten Wasser aus dem tropfenden Hahn waren mit einer dicken, mattglänzenden Lackfarbe in undefinierbarem Ton bestrichen. So mussten früher alle Rohre bestrichen sein, dachte ich. Vor allem hier. Wie das wohl ist, so frierend auf dem Außenklo und die Sirenen beginnen ihr Geheul. Das war in Bochum damals. Viel mehr weiß ich nicht. Recklinghausen kenne ich noch vom vorbeifahren. A43. Aber ich denke an Bottrop.

Heimweg

Da sitzt ein Witzbold auf dem Invalidensitz des Linienbusses, der den toten König des Pop mit einem “Who’s bad now?” Anstecker an seinem Jäckchen ehrt. Ich muss grinsen. Der Busfahrer fährt leichte Schlangenlinien im fahl ausgeleuchteten Tunnel. Ich sage der großen und der kleinen Angst, dass sie mich am Arsch lecken sollen, und beschließe, dass alles irgendwie gut wird. Die blonde Frau im Minirock, die dort in der Mitte des Busses steht, wo tagsüber die alten Damen ihre Rollatoren parken, winkelt ihr rechtes Bein auf Hüfthöhe an und ich bin einen Moment abgelenkt und merke ein Bild später als sofort, dass der Busfahrer das Lenkrad nach links gerissen hat.

Anfang und Ende eines gewöhnlichen Tages

Der Morgen begegnet mir als abgehalfterte, Peter Stuywesant rauchende Frau. Sie oder er, also Frau oder Tag, elende Androgynie, hat einen splissigen Vokuhila und trägt Jeanskutte. Wahrscheinlich ist sie oder er auf dem Weg in Tanjas Trinkstübchen. Dort hört sie dann zu gepflegten Getränken Def Leppard, was ja irgendwie zu ihrer oder seiner Frisur passt. Die Welt steht still. Dann läuft eine verschleierte Baglady durchs Bild, deren Beschreibung als (altmodisch) Land- oder Stadtstreicherin oder (vielleicht gar nicht zutreffend?) Obdachlose nicht annähernd ihre Mühe mit all ihren Taschen beschreibt. Taschen, die wiederum nur Taschen beinhalten. Jute und Plastik. Ich wusste gar nicht, dass es diese traurig-schrägen Spediteurinnen von Handtransportmitteln auch mit Migrationshintergrund gibt. Was für ein Unterschied so ein Tag schon am Morgen machen kann. Währenddessen putzt auf einem Balkon am Haus gegenüber des Gerichts ein alter Mann sein Gewehr. Junge Anwältinnen sitzen im Straßencafé darunter und trinken Latte Togo.

Ich hätte nie geglaubt, dass das geht, aber sie rennt in ihren Jesuslatschen atemberaubend schnelle und behende die Rolltreppe hinab, umkurvt drei Reisende und zwei mal zwei Bahnpolizisten und springt gazellengleich auf die Treppe zum nächsttieferen Geschoss. Ich merke hingegen, es läuft sich viel besser ohne Nagel im Turnschuh. Aber schlecht bei Unterzuckerung. Als ich dem Imbißbudenbetreiber beim Zubereiten meiner schlussendlich öligen Speise zuschaue, frage ich mich, ob er auf dieser Liste steht. Ich kaufe vier Bier zum Essen. Später nehem ich noch einen Snack aus der Friteuse. Es wird kein Käse sein. Dann die Herrentoilette des Fastfoodrestaurants. Ich weiß nicht recht, warum, aber ihre grelle Neonatmosphäre lässt mich an die Dusche dieser Turnhalle drüben auf dem Hügel denken. Wie ich dort damals den Halt verliere und langsam über ihren großen Busen abrutsche in den Rinnstein. Ich dachte, ich sei jemand anderes. Und ich bleibe einfach liegen. Auch heute im Stroboskoblicht hier am Urinal. Da steht eine Menschenmenge und glotzt. Einfach nur liegen bleiben.

Keiner nimmt Notiz

Ich laufe. Ich laufe durch das Weiß. Kein Brautkleid. Ich laufe im falschen Licht der Gaslaternen, laufe durch fahle weiße Unwirklichkeit. Nur die rasende Unruhe, der schnelle Schritt, der pochende Puls, die wild suchenden Augen, die sind echt. Ich laufe weg. Blut, das den Manschettenumschlag des linken Hemdärmels dunkelbraun verkrustet, tropft. Blutstropfen im Schnee, das Herzeleid.
Ich blute und keiner nimmt Notiz.
In der Stadt, deren Sprache ich nicht verstehe. In der ich ohne Dich nicht bin.
Ich laufe schneller, wen soll ich schon bitten. Um was. So fern ist eine zarte hand auf meinem blanken Arm. Ich weine, aber keiner nimmt Notiz. Das Wimmern bleibt im Halse stecken. Ich habe Angst und kann kein Wort weiterdenken.
Ich laufe. Einen schleppenden Takt und doch immer schneller, gewaltsam beschleunigt, einer treibend-aggressiven Melodie im Geiste folgend, verfolgt.
Nichts außer mir verfolgt mich, keiner nimmt Notiz. Ich schreie und höre nichts und kann kein Wort weiterdenken.
Kein Ort mehr. Bin schon lange vor den Toren. Außerhalb der Stadt, deren Sprache ich nicht verstehe, ist alles monochrom. Keine Markierung in der Topographie für mich. Ein einziger Wald, ein großes Gestrüpp.Keine Lichtung, ein Abhang. Eis.
Ich falle.
Dumpf.

Und dann ein Moment der Ruhe. Kein Schmerz, So kalt, so warm.
Es war nur ein Moment.
Du Schlampe.

Allein

Ich will nicht mit euch sein im grellen Neonlicht der Stadtbahnzüge. Ich will nicht sehen, wie schlecht eure Haut ist unter der billigen Schminke. Im Dunkel der Bar wart ihr schöner. Ich will nach dem Moment, an dem der nächste Drink zu viel wäre, an dem klar ist, dass ich heute wieder alleine den Laden verlasse, an dem nur noch die ärmsten der armen Seelen weiter verzweifelt feiern, nicht in die Helligkeit mit euch.
Schlimm genug, mit euch und euren Spumanteflaschen am Anfang dieser Nacht in diesem Zug gesessen zu sein. Jetzt will ich die Nervosität der Nacht, die trunkene Traurigkeit nicht mit dem Gestank von eurem Schweiß, eurem verrauchten Atem voller Süße aus zu zuckrigen Cocktails, eurer Kotze und der kreischenden Helligkeit der Bahnwaggons erschlagen.
Ich will der Nacht nachhängen im künstlichen Leder des Beifahrersitzes eines überhitzten Taxis. Will die Stadt an mir vorbei rauschen lassen und im dämmrigen Gelb der Tunnels schweben und mir versteckt hinter dem Schleier der konsumierten Spirituosen die Obszönitäten, die in Geschichten in solchen Bars am Ende der Nacht geschehen, mit mir als Hauptfigur ausmalen, bis das Taxi viel zu früh an einer Adresse anhält, die ich nannte, weil ich dort Schlüssel für eine Wohnung habe.

Ich will mit euch nichts zu tun haben.

Verlassen

Roman hatte den Schlüssel verloren. Das war im egal. Das Wetter war wie wenn im Februar ein paar weniger kalte Tage den Dreck der letzten Zeit sichtbar werden lassen. Grau mit dreckigem Grün in den Rabatten. Es war aber gar nicht Februar, der soll erst noch kommen. Andernorts hätten Stadtobere zu wichtigen Anlässen die Rabatten saftig lackieren lassen. Hier passten sie zum Beton, der nach verfallendem Hochbunker aussah, moderne Architektur einer ehemals überlegenen Ideologie darstellte und zwar Hauptbahnhof hieß, auch wenn es sich in dieser Sprache kaum aussprechen ließ, aber keiner war.

Roman hatte die Tür hinter sich zugezogen, ohne noch einmal um die Ecke auf sein Bett zu schauen. Da lag eine mit dem Bauch auf der Matratze, der kleine blonde Pelz, den sie über dem Po hatte, leuchtete in dem dreckigen Licht, dass durchs Fenster in das Schlafzimmer schien. Sie schnarchte dezent und roch nach der Nacht. Liegen lassen.
Er ging den Weg hinauf, an der Nähstube, den zwei Kirchen und drei Sonnenstudios vorbei und durch die kleine Gasse zwischen den Wohnblöcken zu der Wellblechhütte, die sich Supermarkt nannte und nahm den Bus, voll mit jungen müden Männern in zerschlissenen Jogginganzügen und wachen jungen Frauen, die alle aussahen, als wollten sie hier weg und deshalb zuviel Rot auf ihren Lippen hatten. Da saß eine, die grüßte ihn, als er kurz nach der Gummifabrik sich durch die stehenden Fahrgäste hindurch ans Ende des Busses gekämpft hatte. Er stieg schweigend am Stadion aus. Sitzen lassen.
Er lief den Abhang hinab in Richtung der Mall, von dort den anderen Hang hinauf, vorbei am Theater. Gestern gab es dort ein Kostümstück über die Intrigen und Gehässigkeiten in den Beziehungen der oberen Zehntausend. Vor 120 Jahren war das Gesellschaftskritik. Heute wurde es selbst hier hinter den großen Wäldern so ironisch gebrochen gespielt wie das Leben in den wirklich großstädtischen Daseinslaboren der aus all den Hiers dieses Kontinents ausgebrochenen Kindern gutverdienender Eltern. Wahrscheinlich war der Regisseur so ein selbstverliebtes Arschloch mit wunderschöner aber debil grinsender Häschenfreundin, der selbst ein paar Jahre in einer Metropole verbracht hatte, um dort allen zu zeigen, wie sehr er die verachtete, deren größtes Klischee er war. Nun ließ er sich hier als der verlorene Sohn feiern und zeigte allen, wie blasiert die Menschen sind, bei denen er sich so unwohl fühlte, als er geflohen war vor dem intelektuellen Unverständnis derer, die ihn nun feierten. Wichser. Dachte Roman und dachte an Häschenfreundinnen mit debilem Grinsen die vor ihm in die Knie gehen und an seinem Gürtel nesteln. Wen die Toiletten in den Zügen nicht so widerlich wären. Fallen lassen.

Rund einen Kilometer nach dem Theater waren aus den Gründerzeithäusern Baracken geworden, die den Bahnhof ankündigten. Welchen Zug? Egal, sagte sich Roman und nahm dennoch den, mit dem er damals gekommen war. Er suchte sich ein freies Abteil. Auf dem Viadukt, keine drei Minuten nach der Abfahrt des Zuges, konnte er die Kotze nicht mehr halten.

Wer hat’s erfunden?

Meine Vorstellung von der Schweiz ist eine Obwohl-Vorstellung.

Obwohl ich Schweizer und in der Schweiz sozialisierte Menschen kenne und schätze, obwohl ich dort schon mal Urlaub gemacht habe und das ein oder andere Mal hindurchgereist bin, mein Schweizbild lässt sich durch diese Erfahrungen nicht prägen.
Es prägt sich noch nicht einmal durch die prägnanten Erfahrungen meiner Familie mit der eidgenössischen Staatsmacht. Mein Vater hat einst beinahe eine diplomatische Krise ausgelöst, als er versuchte, visumspflichtige Ausländer ohne ebenjene Papiere ins Land zu bringen. Es sollte nur ein Ausflug zum Rheinfall werden. Aber das war den Schweizer Grenzern egal. Ohne Visum keine Einreise. Ohne Einreise kein Rheinfall. Etwas lauteres Diskutieren mit den Grenzbeamten führte zu einem halben Dutzend auf die Reisegruppe gerichtete Maschinengewehre. Da verstehen die keinen Spaß, die Rütlischwörer. Mein Bruder hat mal illegal den Grenzzaun zwischen Konstanz und Kreuzlingen überstiegen. War auch nicht sooo clever. Ich hatte Glück, als wir damals im personenmäßig überfüllten Kleinbus gen Italien fuhren und an der Greizer Schwenze niemand die Autopapiere sehen wollte, sonst wäre ich auch noch aktenkundig geworden dort. Aber egal, denn all das spielt ja keine Rolle für mein Schweiz-Bild. Genausowenig wie meine Gruyère-Sucht, meine Schwäche für Ovomaltine und Rivella oder ein deftiges Käsefondue oder der jegliche Neutralität zu Beliebigkeit umdeutende Satz „In dem Fall bin ich die Schweiz.“, den mein soziales Umfeld gerne sagt, wenn etwas, was einen eigentlich moralisch etwas angeht, doch recht scheißegal ist.

Die Schweiz vor meinem inneren Auge ist eine kleinstädtische und bürgerliche Schweiz. Die Menschen wohnen am Hügel mit See- und Bergblick, sie sind sehr intellektuell, sie rezipieren neueste Philosophie, sie orientieren sich an Berlin, Paris und Buenos Aires, sie hören anspruchsvolle Musik, lesen anspruchsvolle Literatur, schätzen die bildende Kunst und gehen oft ins Theater. Sie wohnen in den Denkmälern der Architekturmoderne und trinken Anisschnäpse. Die Männer sind allesamt studiert, die Frauen sind opheliamäßig schön und ebenso geisteskrank, meist üben oder übten sie einen Beruf im regen Kulturbetrieb der kleinstädtischen Schweiz aus. Schweizer haben keine Kinder oder keine Beziehung zu ihren Kindern. Das hat vielleicht auch etwas mit ihrem problematischen Sexualleben zu tun. Die Männer wären gern promisk (klappt aber nur bedingt), die Frauen haben lüsterne Gedanken, die aber viel zu selten Realität werden. Die Schweizer onanieren irgendwie aneinander vorbei. Und noch was: Alle haben sie zu viele Leichen im Keller und eigentlich leben sie irgendwie noch in den 1950ern.
Das ist meine Schweiz.
Meine Schweiz und meine Schweizer entspringen aus meinem, durch die Lektüre der hervorragenden Erzählungen Friedrich Dürrenmatts, Max Frischs und Urs Widmers geprägten Kopfkino. Die Fiktion ist stärker als die Realität. Ich mag meine Schweiz sehr.