Am Samstag findet bei der grünennahen Böll-Stiftung die Konferenz mit barcamp-Anteilen “netz:regeln” statt, Co-Veranstalter ist der der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V. (BITKOM).
Auf die peinliche anfängliche Nullquote von Frauen auf dem Podium wurde von Anne schon ausführlich hingewiesen. Damit ist aber nur ein irritierender Punkt der Veranstaltung, die die Typographie ihres Titels einigermaßen halbinspiriert bei der re:publica geklaut entlehnt hat, benannt:
Ein kleinerer ist der, dass die Böll-Stiftung in ihren Einladungen die Anmeldung nicht ausschließlich, wie die mitveranstaltenden Industrielobbyisten netzaffin über mixxt.de, sondern lieber über ein eigenes Webformular erbeten hat. Während ein Account bei mixxt.de mit einer Mailadresse recht datensparsam erstellt ist, verlangt das Formular der Stiftung obligatorisch zur Mail noch die volle Postanschrift und optional Telefonnummer und Fax. Hallo Datenschutz?
Von größerer Bedeutung aber ist, wie bei Anne schon angedeutet der Titel und mit ihm die Programmgestaltung.
Natürlich ist auch eine Vereinbarung, das nichts geregelt wird schon eine Regel (für alle, die’s ganz genau nehmen), allerdings ist “Netzregeln” durchaus zu lesen als Kampfbegriff der BITKOM gegen weitreichende Netzneutralitätsforderungen, wie sie beispielsweise in der grünroten Initiative “Pro Netzneutralität” von Malte Spitz und Björn Böhning vertreten wird. Dieser kann mensch durchaus kritisch gegenüber stehen, dennoch sei hier erinnert an die Äußerungen von BITKOM-Geschäftsführer Bernhard Rohleder nach einer Sitzung der Projektgruppe “Netzneutralität” der Enquetekommission “Internet und Digitale Gesellschaft” des Bundestages im August, der lieber von “Netzdifferenzierung” sprechen will.
Am Samstag wird es nun zwei Panels zur Netzneutralität geben.
Eines, das mit “Neutral bis zum Kollaps? Netzneutralität und Internetwirtschaft” schon eine reichlich suggestive Überschrift erhalten hat und mit Thomas Jarzombek (MdB CDU, IT-Unternehmer), Alexander Görlach (CDU-nah, The European Blog), Nikolaus Lindner (Leiter Government Relations bei Ebay, die “Pro Netzneutralität” unterstützen) und Wolfgang Kopf (Leiter Politik und Regulierung der Deutschen Telekom AG) nur bedingt kontrovers und vor allem komplett ohne Nutzerbeteiligung besetzt ist.
Das andere, im Anschluss an das erste stattfindende Panel stellt dann wohl den Gegenpol zum ersten dar: “Netzneutralität: Netzwerkmanagement aus Sicht der Nutzer/Verbraucher”. Es diskutieren: Dr. Iris Henseler-Unger (Vizepräsidentin Bundesnetzagentur, die ja so eigene Vorstellungen von Netzneutralität haben), Lutz Donnerhacke (AK Zensur), Dean Ceulic (eco - Verband der deutschen Internetwirtschaft e.V.), Annette Mühlberg (Referat E-Government, Neue Medien bei ver.di) (angefragt) und Markus Beckedahl (angefragt).
Eine Vermittlung von gegensätzlichen Positionen findet so nur erschwert statt und das Agendasetting wird wohl aus reinen Abfolgegründen dem ersten Panel obliegen, während das zweite Gefahr laufen kann, nur noch auf das erste zu reagieren. Mein Gefühl, dass sich die Jungs in Panel 1 einiger sein werden als die zweite Runde, mag Paranoia sein, ich frage mich aber schon, warum hier ein Industrieverband (ich frage mich das mit Hinblick auf Interessenspluralität, unabhängig von deren Netzneutralitätsposition) mit von der Partie ist, während die Nutzer dort außen vor bleiben.
Ich werde den Eindruck nicht los, dass die Böll-Stiftung hier nicht nur beim Thema Gender gepennt und das Thema Datenschutz nicht allzu sensibel bedacht hat, sondern sich auch noch weitgehend bei der Programmgestaltung auf BITKOM verlassen hat.
Aber vielleicht geben die anderen Panels, die Selbstbeteiligungselemente und die hoffentlich in Vielzahl teilnehmenden Frauen dem Tag noch eine buntere, emanzipatorischere und kritischere Wendung. Wenn BITKOM schon die Begriffe besetzen darf, können wir ja wenigstens die Inhalte füllen.
Heute war ich am Hackeschen Markt einkaufen. Weil es da einen Wochenmarkt und einen großen Bioladen gibt und ich also Mangold, Schwarzkohl, Rote Beete, glückliche Wurst, edle Pasta, mediterrane Frischkäsezubereitungen, tollen Kuchen, ausgefallene Joghurtsorten, handgemachten Börek und Strudel nicht nur frisch sondern überhaupt bekomme.
Das alles allerdings hat seinen Preis: Die Kinder der anderen.
Schon vor dem Aufzug im Bahnhof diskutiert eine geschätzt Vierjährige im Flokati laut protestierend mit ihrer Mutter wegen irgendetwas. Die Mutter nimmt ihre Hand, zeigt auf einen der äußerlich unversehrten Kinderfinger und erwidert: “Anais das ist eine Wunde, das geht nicht mehr weg, da müssen wir jetzt wohl zum Arzt, das muss operiert werden.” Dann kommt der Aufzug und Anais’ Mutter stiefelt Anais hinter sich herziehend in den Aufzug ohne hinter sich die Schlange an Kinderwägen, Rollstühlen und Rentnern zu beachten. Sollen doch die die Rolltreppe nehmen.
An der Wursttheke drängelt sich Paul vor mich. Er müsste wochentags so in die zweite Klasse gehen, jetzt wirft er sich gegen die Scheibe der Wurstauslage, tatscht darauf herum und macht mit der Zunge Schlieren aufs Glas. Seine Mutter kommt hinzu: “Paul, magst Du heute die Wurst kaufen? Ja?” Die Fleischereifachverkäuferin ignoriert das vor ihr stehende Kind gekonnt und dreht mir genüsslich ein Pfund Hack durch den Wolf.
Pauls kleiner Bruder prügelt indes energisch auf den Hintern seiner Mutter ein. Die fährt ihn an: “Ich hab Kopfschmerzen, verdammt!”
An der Kasse des Bioladens steht eine Eistruhe. Davor schreit ein Mädchen, dass sich mit aller Kraft an der halboffenen Truhe festhält, weil die Mama ihm kein Eis kaufen will. Die Mama zerrt am Kind, reißt an ihren Gliedmaßen und ruft den verstört zu ihr blickenden Mitmenschen: “Da muss man konsequent sein.”
Eigentlich hätte dieser Text “Mitteeltern” heißen müssen.
Ich habe einen Fehler gemacht heute am Vormittag.
Ich habe auf Twitter einen Tweet gelesen, den ich gut fand und deshalb mit meinem Onlinenetzwerk teilen wollte (warum ich den Tweet gut fand, ist im Folgenden kein Thema).
Fremde Tweets teilen im Sinne von anderen zur Verfügung stellen, geht auf verschiedene Weise.
Eine wäre ein automatisierter Retweet. Das hat aber den großen Nachteil, dass aus mir nicht näher bekannten technischen Gründen durch die Automatisierung dieser Retweet nicht in die ebenfalls automatisierte Weiterleitung meiner Tweets zu meinem Facebookaccount gelangt wäre. Da ich aber wollte, dass dieser Tweet auch meinen Facebookfreunden bekannt wird, musste ich ihn manuell retweeten. Dazu kopierst du den zu retweetenden Tweet in deine Tweeteingabezeile und fairerweise gibst Du dazu noch an, woher du den Tweet hast.
In meinem Fall haben der alte Tweet plus die Nennung des Twitterers aber nicht in die 140 Zeichen eines neuen Tweets gepasst, weshalb ich den alten Tweet etwas gekürzt habe. Da das nun kein genauer Retweet, kein exaktes Zitat mehr wahr, habe ich ihn nicht als solchen gekennzeichnet, sondern den Twitterer des Quelltweets in einer “via”-Angabe genannt.
Das war aber auch blöd, weil “via” irgendwie meist nur einen Linkhinweis oder ähnlich geringe Teilmengen eines Fremdtextes belegt, aber selten ein Quasizitat. Ich will das zukünftig besser machen.
Unabhängig davon haben einige meiner Follower und deren Follower entweder mein “via” überlesen und/oder beim weiteren Retweeten weggekürzt.
Ebenfalls unabhängig davon ist mein Tweet mit via auf der Twitterstartseite gelandet.
Beides hat mir beziehungsweise meinem Twitteraccount heute erhöhte Aufmerksamkeit beschert, was mir ja einerseits recht ist, andererseits mit fremdem Federschmuck einhergeht.
Ohne dass ich davon wusste, hat parallel zu all dem mein geschätzter Kollege @mspro bei Twitkrit zu den angeblichen und realen Plagiatfällen in unserem Twitterbuch geschrieben und dabei kühn behauptet, Twitter sei ein schönes Laboratorium um ohne Urheberrecht miteinander und mit unseren Texten klarzukommen. Wie recht er hat.
Ein Punkt in seinem Text und in der Kommentardebatte danach finde ich besonders bedeutend:
Twittern ist wie Klosprüche, wie Aphorismen, wie Spontispruchsammlungen. Auch ein Hippie muss mal Pipi und dergleichen. Da bricht sich die Weisheit und Dummheit der Massen Bahn. Gerne in Wortspielen. Und ich sag mal auf Hippie reimt sich jetzt nicht soviel. Das ist jetzt keine besondere Leistung, sich den Spruch auszudenken. Und insofern auch kein Wunder, wenn der von verschiedenen Menschen “erfunden” wird. Und wenn Hippies gerade Trending Topic sind, geschehen solche Erfindungen schon mal zeitglich, ohne dass es von einander klauen ist.
Dazu kommt, dass durch Retweeten und ähnliches ganz schnell einerseits technisch durch das Verhalten bestimmter Twitterclients oder andererseits durch absichtliche und unabsichtliche Nachlässigkeit eines Retweeters in der Retweetkette die Quelle am Anfang der Kette unter den Tisch fällt. Alle, die dann später den Tweet rezipieren, haben gar keine Chance mehr, nachzuvollziehen, wo der Text herkam, der möglicherweise trotz all seines Witzes nicht nur einer Person eingefallen war, weil das Thema gerade nahelag.
Obwohl ich am Vormittag etwas krampfig meine Quelle angab, fiel ein Teil der Aufmerksamkeit auf mich, weil irgendwo außerhalb meines Einflussbereichs meine etwas krampfige Quellennennung flöten ging. Dabei war ich’s gar nicht. Ich hab nur weitergeplappert.
Nicht hinter jedem vermeintlichen Plagiat steckt also kriminelle Absicht. Erst recht nicht, wenn es um so kleine Textfragmente wie Tweets geht.
Die Literaturtheorie hat längst herausgearbeitet und anerkannt, dass wir in einem ständigen Bezugsystem aus Texten leben, unsere Gedanken und Äußerungen ohne die Gedanken und Äußerungen anderer gar nicht möglich und immer davon beeinflusst sind. Es gibt keinen Originaltext, immer nur Fortschreibungen. Und je kleiner die Textmenge desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sich Vorgängertrext und Folgetext sehr sehr ähnlich sind.
[Exkurs] Ist eigentlich schon wer auf die Idee gekommen, zu prüfen, wie viele der “Ich hasse Montage”-Tweets oder “Wetter ist scheiße”-Tweets wortgleich sind, um die jeweiligen Twitterer dann des illegalen Kopierens zu bezichtigen? [/Exkurs]
Und je schneller fortgeschrieben wird, umso schneller gerät der Stammbaum des Textes in Vergessenheit. Twittergeplapper ist etwas schneller durcherhitzt als beispielsweise die Tradition des sehr berühmten Faust-Stoffes. Aber wer weiß schon, dass Goethe sich da hat inspirieren lassen? Sicher noch einige. Aber wer weiß, von wem alles und wer alles sonst diesen Stoff vor Goethe publiziert hatte? Na? Originale geraten in Vergessenheit, der Stoff aber bleibt aktuell.
Genau deshalb ist es auch Blödsinn, von geistigem Eigentum zu sprechen.
Eigentum ist eine Kategorie aus der Welt der materiellen Güter und da vom Besitz zu unterscheiden. Nehmen wir das Beispiel “Buch”.
Ich kaufe mir ein Exemplar unseres Twitterbuchs. Damit bin ich Eigentümer dieses Exemplars. Sobald ich es meiner Nachbarin leihe, besitze ich es solange nicht mehr, bis ich es zurück bekomme. Eigentümer bleibe ich aber, ich habe es ja nicht weiterverkauft oder verschenkt. Den Inhalt des Buches kann ich aber weder besitzen noch als Eigentümer halten, denn der ist ja in allen Exemplaren des Buches identisch. An dem haben alle teil, die das Buch lesen, ob sie es nun gekauft haben oder nicht.
Und wer das Buch liest, hat die darin enthaltenen Tweets in seinem Kopf. Die Leser werden vieles vergessen, vielleicht auch doof finden. Aber ganz sicher, wird das Gelesene Spuren in ihren Gedanken hinterlassen. Und wenn aus den Gedanken Äußerungen werden, finden sich diese Spuren darin wieder. Sei es als Zitat, als Anspielung, als Thema oder als ungekennzeichnete Vollübernahme (vulgo Plagiat).
Würde das Eigentumskonzept bei Texten oder Tweets als den Produkten geistigen Schaffens greifen und wären diejenigen, die einen Text/Tweet erfunden haben die Eigentümer ihres geistigen Schaffens, müssten sie diese Texte/Tweets von ihren Lesern zurückbekommen können, wie ich das Buch als physikalisches Ding aus Papier von meiner Nachbarin zurückbekomme, nachdem sie es gelesen hat.
Das funktioniert aber eben nicht, denn der Leseeindruck und damit der Text bleiben bei meiner Nachbarin wie bei allen Rezipienten.
Und was die dann aus ihren Leseeindrücken machen, liegt an ihnen. Wenn sie nett sind, machen sie Quellenangaben beim Weiterverwenden.
Das ist übrigens eine sehr akademische Weise, mit Vorgängertexten umzugehen. In der mündlichen Kommunikation lassen wir die Literaturhinweise spätestens nach “Die Bekannte eines Bekannten meiner Schwester hat gesagt” aus Bequemlichkeits- und Zeitersparnisgründen meist weg und keinen stört’s. Und Twitter ist in all seiner Geschwätzigkeit schon sehr nah am Oralen.
Aber dennoch: Wenn die Textrecycler nett sind, machen sie Quellenangaben beim Weiterverwenden. Und dann kann es ihnen doch gehen wie mir heute am Vormittag. Sie treffen auf automatisierte und humanoide Recycler recycleter Texte, die warum auch immer diese Nettigkeit nicht mehr bis ins x-te Glied zurück bedienen und werden auf einmal zu Autoren, die sie nicht sind und Plagiatoren, die sie nicht sein wollen.
Und jetzt müsste ich als Mitherausgeber eines urheberrechtlich geschützten Twitterbuchs eigentlich noch hinterherschieben, wie ohne geistiges Eigentum dennoch zu rechtfertigen ist, mit Texten Geld zu verdienen. Ich müsste mich zum Thema Urheberrecht verhalten. Das ist ein weites Feld. Nur soviel: Mit den Texten wird meiner Meinung und Erfahrung nach nur schwer Geld verdient, verdient wird mit der Darreichungsform und der Exklusivität der Veröffentlichung sowie der Werbung drumrum.
Das war vor der Digitalisierung einfacher, weil Texte an physische Medien gebunden waren und das Drucken und Nachdrucken etwas länger dauerte als heute ein einfaches Retweeten. Siehe dazu auch Marcel Weiß, insbesondere diesen Text.
Im Falle unseres Twitterbuches:
Die Tweets inklusive aller Zitate, Kopien, Plagiate und StudiVZ-Gruppennamen, die wir als solche nicht erkannt haben, weil selbst unser intertextuelles Wissen begrenzt ist, sind nicht unsere kreative Leistung.
Unsere kreative Leistung (wie auch immer ihr deren Qualität bewerten wollt) ist die Auswahl und die spezifische Zusammenstellung in den Kapiteln des Buches und der Reihenfolge sowie die Drumherumtexte.
Der Verlag wiederum stellt Geld, Papier, Satz, Druckaufträge, Marketing, Distribution und ähnliches Verlagsknowhow, um dass alles auf ein physikalisches Medium namens Buch zu bekommen. Diese Investitionen will er wieder (am besten mit Gewinnplus) reinholen. Das kann er, weil es diese Inhalte in dieser Form nur in diesem Buch gibt, dass obendrein im Moment nur als relativ aufwändig zu kopierendes Papierprodukt gibt und offenbar ein bestimmtes Interesse am Markt besteht, diese spezifische materialisierte Form der Tweetsammlung zum vorgeschlagenen Preis zu kaufen.
All das ginge wohl auch ohne Urheberrecht. Meine Meinung. Nicht zwingend die des Verlags.
Stimmt natürlich nicht so ganz, dass das erst jetzt so ist. Zum einen hab ich früher ja schon mal für eine gedruckte Tageszeitung gearbeitet, zum andern tauchten meine ersten gedruckten Onlinebeiträge in der gedruckten Zeitung zur ersten re:publica 2007 und im Daily-Monster-Buch auf. Und im Stijlroyal-Magazin Nummer 13 durfte ich auch was schreiben, nachdem ich für die Nummer 12 schon interviewt wurde.
Aber: Nun bin ich Mitherausgeber und das ist ja schon was anderes. Ich freu mich also schwer, dass heute unser Best-of-Twitterlesung-Buch bei PONS erscheint! Ich freu mich so schwer, dass ich dafür sogar unter die Filmemacher gegangen bin und den Herausgeberkollegen @mspro zum Buch interviewt habe:
Der Verlag hat auch noch ein Video zum Buch machen lassen. Und nun könnt Ihr es also kaufen. Am besten in Eurer Lieblingsbuchhandlung. Oder in meiner. Online bestellen geht auch. Hier zum Beispiel. Danke.
cc-by-sa von miss sophie, und auf eine gar nicht in besitzverhältnissen gemeinte art auch ein wenig von mir.
Ein paar Grundlagen der Interpretationstheorie zeigen schnell, wie unwichtig und vor allem ohnmächtig in der Kommunkation (vom persönlichen Gespräch/Streit bis zur Weiterverwendung von Daten) die Autorintention schon immer war.
Es gibt die eine richtige Interpretation nicht. Jede Aussage hat Leerstellen, die wir als LeserIn/HörerIn/SeherIn (RezipientIn) mit unserem Wissen füllen müssen oder können, um etwas für uns sinnvolles daraus zu machen. Der Satz “Ich kaufe eine Kartoffel.” sagt ja beispielsweise nichts aus über die Kartoffelsorte (Linda, mehligkochend, bio, …), den Kaufort (Wochenmarkt, Discounter, Saatguthändler) oder den Kaufgrund (der beim Bauern ein anderer sein mag als beim Hobbykoch). Ohne mein Wissen um die Umstände der Äußerung dieses Satzes (wer hat das wann wem erzählt) kann ich die Dimension der Aussage nur sehr vage definieren und werde immer mein Wissen in diese Aussage hineinlegen (ich kaufe Kartoffeln nur bio, selten mehligkochend und nie als Saatgut), komme also zu MEINER Interpretation des Satzes, nicht aber unbedingt zur Intention des Sprechers.
Aber, um es an Umberto Eco angelehnt zu formulieren (der vom “Gebrauch” als negativem Gegenpart zur Interpretation spricht): Es gibt Über- und Fehlinterpretationen. Und die geschehen immer, wenn ich einer mir außenstehenden Information entgegen der in ihr enthaltenen Daten mehr von mir und meinem Wissen, meinen Intentionen anhänge, als es die Leerstellen ebendieser Information eigentlich erlauben (ich kann nicht eindeutig bestimmen, welche Kartoffel oben wofür gekauft wurde). Plump gesagt: Es gibt viele richtige Interpretationen einer Aussage, viele schwierige und viele falsche.
Datenschutz sollte m.E. die richtigen Interpretationen nicht verhindern, bei den schwierigen vorsichtig abwägen, aber gegen die falschen, insbesondere, wenn sie Selbstbestimmungsrechte verletzen, wirksam werden.
Was nun aber richtig, schwierig und falsch ist, lässt sich leider nicht pauschal sagen, hängt von der einzelnen Information, ihrem Sender und Empfänger und dem zum jeweiligen Interpretationsmoment zur Verfügung stehendem Zusatzwissen ab.
Heute würde ich sagen: Wo ich gerade rumhänge, geht die Öffentlichkeit nichts an, wenn ich das nicht kundtun will. Mein Mobilfunkprovider braucht die Info aber, um das Handy im Netz zu halten. Aber wehe, der bringt die an die Öffentlichkeit. Nicht sein Job. Sollte er das dennoch tun, will ich ihn dafür drankreigen können. Oder: Die Vorteile des deutschen Lieblingsbeispiel zum Thema “Google Street View” schätze ich persönlich höher als die Privatsphäre einer Hausfassade. Wer aber zur Zeit der Aufnahme durch das Google-Auto in meinen Vorgarten gepinkelt hat, muss nicht alle Welt sehen können. Oder so.
Der Kontrollverlust über die eigenen Daten ist aufgrund der Nichteindeutigkeit von Informationen und ihre Einbindung in die Kommunikationssituation schon immer gegeben, konnte noch nie ganz verhindert werden und wird mit jedem Mehr an Informationsfluss schwieriger.
Dennoch muss er nicht total sein und kann allgemein vernünftigen Regeln (hermeneutisch, semiotisch, kommunkationstheoretisch, such dir was aus) unterworfen werden. Im Konkreten (und damit juristischen) aber sind diese Regeln einer sehr komplexen und stetig fließenden Realität anzupassen.
Diesen Punkt bedenkend muss Datenverbreitung und -verarbeitung geregelt werden, braucht die tendenz zum Kontrollverlusst, tendenziell funktionierende Kontrollmechanismen. Und zwar so, dass es das Individuum so weit schützt wie nötig und ihm so weit nützt und so viel ermöglicht wie möglich. Weil Daten Machtverhältnissen unterworfen sind.
In der Mitte des Landes ist alles gelbbraun. Außer dem Klee und dem andern Zeugs, das grün auf manchen Äckern steht, um alsbald untergepflügt zu werden. Während der Nebel in den Tälern die Zeit entrückt, stehen auf den Lichtungen der bewaldeten Höhen Rotwildgroßfamilien und sonnen sich. Das ist so schön hier, so romantisch. Kein schöner Land mitten in der Bundesrepublik. Heimat, zum Erbrechen idyllisch. Goldener Oktober, ach hau mir ab. Heute ist Volkstrauertag und wir sind eben in einem überfüllten Nahverkehrszug mit dicken Kindern und besoffenen Männern mit grauer Haut und billigen Kleidern aus Kassel raus.
Es ist Ende Juni und in Westdeutschland angeblich schon warm. Ich freu mich drauf. Samstagmorgen, aus Berlin sind vor allem junge Menschen auf dem Weg in die alte Heimat. Zeitungen, Zeitschriften, Notebooks und hochwertige In-Ear-Kopfhörer schaffen eine entspannte, fast stille Atmosphäre. In Braunschweig wird der Zug voll. Auf einmal höre ich hinter mir eine Stimme, in die all die Enttäuschungen einer Jahrzehnte währenden Ehe hineingelegt sind: “Erwin, ich habe einen Platz, wo du mir gegenüber sitzt. Kommst du bitte mit?” Ja, es gibt Möglichkeiten, sich im Lebensabend für all die Demütigungen des Patriarchats zu rächen. Immerhin hat sie “bitte” gesagt. Georg hat es da nicht so gut. Der alte Mann wird von seiner Frau platziert, dann soll er Zeitung lesen. Sie setzt sich neben mich. Leider ist der Sitz im ICE-Großraumabteil zu schmal für ihren Hintern. Aber ich hab ja noch ein bisschen Platz. Sie packt eine Packung Tiefkühlobstkuchen aus, in die sie, eingehüllt in einen Gefrierbeutel, einen Pappteller mit dem aufgeschnittenen Tiefkühlobstkuchen gepackt hatte. Dann ruft sie Georg zu sich, fragt wieviel Kuchen er will, gibt ihm zeitgleich zwei Stück und verkündet dem ganzen Abteil, dass müsse vorerst genügen, sie habe aber auch noch belegte Brote dabei. Georg, scheinbar halb so groß und halb so breit wie seine Frau, schweigt und trollt sich. Sie löst Kreuzworträtsel in einer Adels- und Schlagerpromipostille. Irgendwann steht er auf. Zwischen zwei Bahnhöfen. Einfach so. Panische Reaktion auf der anderen Hälfte meines Sitzes und dem daneben: “Georg, was ist mit Deinem Platz? Georg, setz dich wieder hin!” Georg zeigt einen halbherzigen Versuch der Auflehnung, murmelt irgendetwas, was wirsch sein soll, aber resigniert klingt. “Georg, die Leute sind schon ganz genervt von uns! Immer wenn wir verreisen, machst Du solche Probleme. Wir wollen den Leuten doch nicht dauernd zur Last fallen!”
Marianne hat Pizzaschnecken gemacht. “Wat tust du da drin?”, fragt Gisela. “Ein Becher Schmand, zwei Esslöffel Zwiebelsuppe von dem Pulver, Speckwürfel und Kräuter.” Mir ist schlecht. Gisela hat geschnittene Kohlrabi, Cocktailtomaten und Kräutersalz dabei. Es ist Hochsommer, die Klimaanlage im Zug arbeitet, wenn überhaupt, sehr zurückhaltend. Dennoch ist mir der Duft des Kohlrabi hundertmal lieber als der, den vorhin die Füße der jungen VWL-Studentin nach dem Abstreifen der Mokassins verströmten. Die Füße und deren Besitzerin verließen mich aber schon in Gütersloh. Else hat zu Mariannes Pizzaschnecken und dem Kohlrabi, den Cocktailtomaten und dem Kräutersalz von Gisela noch Karottenschnitze, Cocktailtomaten, Käsewürfel und Trauben mitgebracht. Die drei Gatten haben Brot aus den Reisetaschen gekramt. Auch geschnittene Paprika ist da. “Iss doch mal wat Gesundes, hoho.” Gemeinsam öffnen sie ihre Gefrierbeutel und großküchentauglichen Plastikvorratsdosen, breiten alles auf den Tischen der zwei Vierersitzgruppen im Intercitywagon aus. Zum Essen wird Discountersekt halbtrocken in rosa Plastikbechern gereicht. Marianne: “Sind doch lecker, die Pizzaschnecken, ne?” “Joah… Geht wohl”, kaut Gisela genussvoll mit vollem Mund zurück. “Wollen sie auch ne Kohlrabi, junger Mann?” Sie sind aus Westfalen auf dem Weg in den Urlaub in Ostdeutschland. Nur praktische Kurzhaarfrisuren haben die Frauen wunderlicherweise keine. Ich schwitze. Da zeigt sich die Lebenstüchtigkeit von Reisegruppen kurz vorm Renteneintrittsalter. Else schickt Reinhold, um den Zugebgleiter zu holen. Wenn schon die Klimaanlage nicht funktioniert, sollen doch wenigstens die Fenster geöffnet sein. Uns umweht alsbald ein beinahe frischer Wind. Als Mariannes Mann aufsteht, um zur Toilette zu gehen, steigt der Duft von Schweißfüssen wieder in meine Nase. Als Mariannes Mann zurückkommt, setzt er sich zu Else, Gisela und deren Mann. Sie spielen Doppelkopf. Reinhold unterhält sich mit Marianne darüber, dass die Zeitung geschrieben hat, man solle nicht mehr den Garten wässern, weil das Grundwasser so stark zurückgeht. Zwischendurch erfragt Reinhold Mariannes Handynummer. Marianne lacht: “Ach ja, so is dat alle.”
mit der achten Märchenstunde haben Max und ich diesem “sympathischen Podcast-Format” ein eigenes Blog spendiert (also Max hat spendiert und eingerichtet, ich hab nur Hilfsarbeiten geleistet). Einen eigenen, selbstständigen Podcast- oder iTunes-Feed gibt’s auch für die Unterwegshörer. Für später habe ich das Märchenstundenblog links unter “und sonst” verlinkt.
Danke für Eure Aufmerksamkeit, jetzt schön weiter Eier auspusten und verzieren!